1989 Schlutup Lübeck

1989 Schlutup Lübeck

Dem Wasser eine Stimme geben

Eine gewaltige Welle symbolisierte das Wasser, das geschützt werden sollte

Dem Wasser eine Stimme zu geben, war das Ziel und Motto von gleich mehreren Aktionen in der Nähe von Lübeck. Seit 10 Jahren bestand damals die Giftmülldeponie Schönberg auf DDR-Gebiet an der Grenze zur BRD; der Nachbarort auf westdeutscher Seite heißt Schlutup. Ursprünglich als Hausmülldeponie angekündigt, war Schönberg schnell zur Sondermülldeponie erweitert worden, auf der hochgiftige Stoffe aus vielen Ländern Europas abgeladen wurden – damals eine gute Devisenquelle für die DDR und eine gute Möglichkeit für die BRD und andere Länder, ihren hochgiftigen Müll kostengünstig loszuwerden. Erst Anfang der 90er Jahre wurden erste Untersuchungen darüber veröffentlicht, dass vergiftetes Sickerwasser in das Grundwasser gelangt war. Ein Grund für die Untersuchungen waren die Proteste in Ost und West, dazu gehörte auch die Lebenslaute-Blockade. Lebenslaute unterstützte damit die Initiative „Wasserzeichen“, die in Hamburg und Lübeck aktiv wurde. Ein Probenwochenende fand vom 19.- 21. Mai 89 statt, eine Woche später dann die Aktion.

Konzertprogramm:

G. F. Händel: Wassermusik
Felix Mendelssohn: Wie der Hirsch schreit
Kammermusik

Eine Kopie des Aufrufs als PDF findet ihr hier:

Das Titelblatt des Aufrufs zeigt eine riesige Welle, in dieser Musiknoten. Zu erkennen ist im Vordergrund das Motiv von Schuberts “Forelle”.

Aus dem Aufruf:

Wasser ist Leben – zu 90 Prozent bestehen wir aus Wasser, um uns zu erhalten, brauchen wir täglich mindestens 2 Liter Trinkwasser.
Diese Lebensgrundlage ist gefährdet. Nord- und Ostsee drohen zu sterben, das Grundwasser ist an vielen Stellen in hohem Maße so verschmutzt, dass Leben nicht mehr möglich ist.
Wir wollen Zeichen setzen, wollen aufwecken, um die Situation bewusst zu machen.
Wir wollen wissen, was wir tun können, um das Wasser und damit unser Leben zu erhalten.
Stirbt das Wasser, sterben wir.
Schönberg ist der Name eines kleinen Dorfes im äußersten Nordwesten der DDR. Fünf Kilometer von der Lübecker Stadtgrenze entfernt, entsteht hier der größte Giftmüllberg Europas. Chlororganische Lösungsmittel, Asbestabfälle, Cyanide, Arsen, Schwermetallverbindungen, PCB, dioxinhaltige Schlämme – alles, was in der BRD und im benachbarten Ausland nur mit hohen Kosten und gegen heftigen Widerstand von Bürgerinitiativen deponiert werden könnte, wird hier von der DDR ohne großes Aufhebens gegen harte Devisen „entsorgt“.
Schönberg ist eine Billigdeponie und könnte nach westdeutschem Recht so nie genehmigt werden. Der Untergrund der Deponie ist gegenüber dem Grundwasser nicht abgeschlossen. Große Mengen hochgiftigen Sickerwassers werden durch Wakenitz und Trave in die Ostsee geleitet.
Schönberg steht für die Vergiftung von Grundwasser und Ostseewasser, Schönberg steht für die Gefährdung des Lübecker Trinkwassers, Schönberg steht für ein grenzüberschreitendes Verbrechen an Wasser, Erde und Luft, an Tieren und Menschen.
Jeden Tag rollen 200 bis 300 Giftmüll-LKWs in Schlutup, einem kleinen Vorort Lübecks, über die innerdeutsche Grenze ins benachbarte Schönberg. Diese Transporte wollen wir mit einer großen KONZERTBLOCKADE am 26.5.89 unterbrechen.
Konzertblockaden fanden bislang in Mutlangen, Heilbronn und Wackersdorf statt, initiiert von den „Lebenslauten“, einem losen Zusammenschluss engagierter MusikerInnen aus der gesamten BRD. Regionalgruppen der LEBENSLAUTE arbeiten in Stuttgart, Tübingen, Heidelberg, im Ruhrgebiet und in Hannover, Hamburg und Lübeck.

LEBENSLAUTE heißt für uns, dass wir das Leben um uns und die Lebendigkeit in uns in ihrer Schönheit und ihrem Bedrohtsein laut werden und erklingen lassen wollen. Wo die Flut an Katastrophenmeldungen uns gleichgültig macht, entmutigt und erschlägt, wollen wir mit der Schönheit und Intensität von Musik Aufmerksamkeit wecken und Mut machen für den Einsatz für eine überlebensfähige Welt. Wo Argumente nicht mehr angehört werden, soll Musik eine unüberhörbare Sprache sein, die sich in ihrer Lebendigkeit der Zerstörung unserer Welt entgegenstellt.
Das Wasser kann nicht schreien! Krebse, Muscheln und Kleinstlebewesen können ihr Recht nicht einklagen. Vögel, Fische und Robben können sich den Gifttransporten nicht in den Weg stellen.
Dabei ist unsere Zukunft mit der des Wassers und seiner BewohnerInnen unlösbar verbunden: stirbt das Wasser, sterben wir.
Die enge Verwandtschaft von Wasser und Musik hat von jeher komponierende und musizierende Menschen bewegt. Wir wollen versuchen, mit einer WASSERMUSIK-KONZERTBLOCKADE dem Wasser und seinen BewohnerInnen eine deutlich vernehmbare Stimme zu geben. Im Namen des Wassers, stellvertretend für Fische, Krebse und Vögel, für unsere Kinder und Enkel und um unser eigenen Gesundheit willen werden wir dabei am Montag, den 29. 5. 89 den Zustrom von Giftmüll nach Schönberg unterbrechen.
Die Entscheidung, durch die Blockade der Gifttransporte ein Gesetz zu übertreten und Zivilen Ungehorsam zu leisten, ist Ausdruck unserer Wut und Betroffenheit angesichts der Ignoranz, mit der Industrie, Politik und Behörden die Vergiftung von Wasser, Luft und Boden hinnehmen. Sie zeigt auch unser Ohnmachtsgefühl und unsere Ratlosigkeit,t wie der Verseuchung Einhalt geboten und das Wasser von Wakenitz, Trave und Ostsee gerettet werden kann.
Wir fordern alle Verantwortlichen in Industrie, Politik und Behörden auf, gemeinsam mit allen interessierten BürgerInnen konstruktive und konkrete Wege zur Vermeidung von Giftmüll und zur Rettung des Wassers zu erkunden und umzusetzen!

Stoppt Schönberg!

Um die Giftmülltransporte effektiv für einen Tag zum Stillstand zu bringen, müssen wir viele sein.
Uns liegt daran, ‚gute‘ Musik zu machen. Darum wenden wir uns vor allem an geübte SängerInnen und InstrumentalistInnen und legen Wert auf möglichst sorgfältige Probenarbeit. Für (Sinfonie-)Orchester und (großen) Chor gibt es ein gemeinsames Probenwochenende, während Kammermusik dezentral in den einzelnen Städten eingeübt wird. Die Aktion wird von den LEBENSLAUTE-Regionalgruppen in Hannover, Hamburg und Lübeck getragen und basisdemokratisch strukturiert sein. Neben den Probenterminen werden in den Regionalgruppen an insgesamt zwei bis drei Abenden in den Wochen vor der Aktion Treffen zum sich-Kennenlernen, zur Vorbereitung der Aktion (Ablauf, Öffentlichkeitsarbeit, Juristisches,…) und für Absprachen wegen Kammermusikbesetzungen stattfinden.

Über die Aktion wurde später eine Dokumentation erstellt, hier das Titelbild:

Zur Seite 1990: Hanau