1988 Wackersdorf
Wackersdorf, etwa 30 km nördlich von Regensburg, war bis in die 80er Jahre vor allem durch den Braunkohle-Tagebau geprägt, dem das Dorf Alt-Wackersdorf in den 50er Jahren schon einmal hatte weichen müssen. Anfang der 80er Jahre wurden Pläne bekannt, dort eine Wiederaufbereitungsanlage für abgebrannte Brennstäbe zu errichten, ein Vorhaben, das mit äußerster Härte gegen jeden Widerstand durchgesetzt werden sollte.
Die Lebenslaute-Aktion wurde im Aufruf als “Regionales Projekt Nord” beworben. Im Mai 1988 gab es in Hamburg, Lübeck und Hannover Veranstaltungen zur Vorstellung von Blockaden von Brokdorf und Wackersdorf. Die Aktion selbst begann mit einem Konzert auf dem Marktplatz. Eine Demonstration am Bauzaun wurde verboten, aber man scherte sich nicht darum. Als Polizei auftauchte, begann die Gruppe nach einiger Zeit, Musik zu machen, „und erstaunlich schnell kippte die Stimmung um… Die Leute kamen alle zur Musik, … und die Polizei stand plötzlich deplatziert und unbeachtet etwas dumm rum.“ (aus der Dokumentation) Es folgte ein Katz- und Maus-Spiel mit der Polizei, und die Gruppe blockierte schließlich die Zufahrtsstraße zum Baugelände. Nach kurzer Zeit wurde geräumt, sechzehn Personen wurden festgenommen, wobei das „Publikum“ seiner Empörung Ausdruck gab, wenn die Polizei zu grob zupackte. „Viele waren zornig und enttäuscht, dass unsere eigentliche Konzertblockade durch die Räumung so schnell beendet worden war. Uns Festgenommenen selbst ging das anders: Festnahme, Prozess und Strafvollzug sind Teil unserer Aktion.“ Die Festgenommenen wurden ED-behandelt, eine Demütigung, gegen die sie z. T. aus Übermüdung keinen Widerstand entwickeln konnten. Es folgten Strafbefehle wegen Nötigung. Erst 1990 entschied das Oberlandesgericht München in 3. und letzter Instanz, dass die Behinderung des Verkehrs derartig kurz gewesen sei, dass sie nicht als Nötigung gewertet werden könne und das im Rahmen der Ausübung des Demonstrationsrechts Hinzunehmende nicht überschreite (Lebenslaute-Rundbrief aus Tübingen vom 17.1.1991)
Ungerechte und unterdrückende Wirtschaftsstrukturen, fortgesetzte Nachrüstung, rücksichtslose Ausbeutung und Vergiftung der Umwelt: aller Erkenntnis und allen sporadischen Veränderungsansätzen zum Trotz scheint die herrschende politische und ökonomische Praxis uns Katastrophen unausdenkbaren Ausmaßes entgegenzutreiben. Widerstand erscheint zwecklos. Wir wollen ihn trotzdem wagen.
Zu allen Zeiten haben Menschen musiziert, ihre Freude, Trauer, Jubel, Klage, alles was menschliches Leben ausmacht, in Laute und Klänge gefasst. Zu allen Zeiten wurde Musik aus bestimmten Motiven und mit bestimmten Interessen gemacht. Jede Ideologie, jedes Regime und jede Bewegung braucht ihre Begleitmusik; keine Demo ohne Lieder, keine Nation ohne Hymne, keine Armee ohne Musikkorps, – selbst in Auschwitz ein klassisches Orchester. Zu allen Zeiten war klassische Musik Musik der Herrschenden, also in aller Regel Musik reicher weißer Männer. Trotzdem wollen wir sie als Widerstand gegen die Politik der reichen weißen Männer verwenden.
Unser Interesse gilt einer Welt, in der alle leben können, weil Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung vor allem anderen zählen. Unsere Methode ist der gewaltfreie Zivile Ungehorsam in der Tradition Gandhis und Martin Luther Kings. Angesichts der drohenden Katastrophen und der herrschenden Ignoranz halten wir es für geboten, gezielt und öffentlich Gesetze zu übertreten, die das Fortschreiten auf dem Weg in den Untergang ermöglichen. Durch gegenseitige Unterstützung und Ermutigung versuchen wir, die Folgen von Zivilem Ungehorsam, Prozesse und Geld- oder Freiheitsstrafen für uns erträglich zu gestalten. Durch Zusammenarbeit mit anderen Gruppen – bislang vor allem mit der Kampagne Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung – soll unser Widerstand größtmögliches politisches Gewicht erlangen.
Unsere wichtigste Aktionsform ist die Konzertblockade: klassische Musik bis zur Räumung: Die Blockade der Zufahrt zu einem Raketendepot, einer Atomfabrik oder einem durch Ausbeutung und Unterdrückung profitierenden Konzern steht für den Ernst unseres Neins! zu Ungerechtigkeit. Rüstung und Umweltzerstörung: Die Klänge des Konzerts sollen unsrer Lebendigkeit und unsrer Lebensbejahung eine weithin hörbare und kaum missverständliche Stimme geben.
Musik ist etwas Empfindliches: leicht störbar und empfindlich – und Musik hat enorme Power. Beides, Sensibilität und Stärke, tut Not, wenn wir mit Ernst und Vergnügen unser Ja! zu Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung umsetzen wollen.
Seit der ersten Konzertblockade im Sommer `86 in Mutlangen gibt es Regionalgruppen der Lebenslaute im Rheinland und im Großraum Stuttgart. In Mutlangen, Heilbronn, Großengstingen, Frankfurt, Bonn und Düsseldorf ist die Lebenslaute mit Konzerten und Aktionen aufgetreten. Etwa ein Dutzend MusikerInnen standen wegen der Konzertblockaden in Mutlangen bislang vor dem Richter und wurden in der Regel wegen Nötigung zu 20 Tagessätzen verurteilt. Weitere Verfahren stehen noch aus.
Wir laden Sie herzlich zur Mitarbeit bei der Lebenslaute im Regionalen Projekt Nord ein.
Zwei Ansatzpunkte für das erste halbe Jahr schlagen wir vor:
– Konzertante Teilnahme an einer der regelmäßig an jedem 6. des Monats stattfinden Blockaden in Brokdorf
– Vorbereitung auf die bundesweit gemeinsam mit den Rheinländern und Stuttgartern geplante Konzertblockade in Wackersdorf am 25. 9. 1988.
An der Blockade in Wackersdorf werden nur Gruppen teilnehmen können, die sich gemeinsam durch gewaltfreies Training und die Ausarbeitung eines musikalischen Programms vorbereitet haben. Innerhalb dieser Gruppen können auch Menschen mitwirken, die nicht bis zur Festnahme blockieren können oder wollen. Der Schwerpunkt der Konzerte soll im Bereich klassischer Musik liegen, ohne dass dadurch andere Musikrichtungen ausgeschlossen werden sollen. Uns liegt daran ‚gute‘ Musik zu machen. Darum wenden wir uns vor allem an geübte SängerInnen und InstrumentalistInnen und legen Wert auf möglichst sorgfältige Probenarbeit.
Alle, die Lust haben, die bisherige Arbeit der LEBENSLAUTE näher kennenzulernen und u. U. am Aufbau des Regionalen Projekts – Nord Mitzuarbeiten, sind herzlich eingeladen!
In der ersten Maiwoche finden in Lübeck, Hannover und Hamburg erste Treffen statt, bei denen wir mit Dias und einem Videofilm von der bisherigen Arbeit der Lebenslaute erzählen werden.
Konzertprogramm Wackersdorf 1988
Daniel Speer: Sonate für 3 Trompeten, Horn und Posaune
Johann Pezel: Intrada zu 5 Stimmen
Antonio Vivaldi: Konzert für Piccolo-Blockflöte, Streicher und B. c. in C
Max Reger: Lyrisches Andante für Streichquintett
J. S. Bach: Gambensonate in G, bearbeitet für 3 Violoncelli
L. v. Beethoven: Duo für Violine und Vc
Georg Christoph Wagenseil: Quartett für 3 Celli und Kontrabass
Antonio Vivaldi: Largo und Courante aus einer Sonate für 2 Celli
Frigyes Hidas: Quartettino für 2 Trompeten, Horn und Posaune
Chris Hazell: Halleluja-Drive für Blechbläser-Quartett
Französisches Volkslied: Tourdion (Satz: Pierre Attaignant)
Hans Leo Hassler: Nun fanget an